DIE VIOLETTE STUNDE by Katherine Hill

DIE VIOLETTE STUNDE by Katherine Hill

Autor:Katherine Hill
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Ullstein Buchverlage GmbH
veröffentlicht: 2014-12-27T16:00:00+00:00


10

An dem Abend, als Abe Green sie abholen wollte, dachte sie beim Frisieren vor dem Badspiegel, dass sie einen neuen Gipfel erklommen hatte. Hatte irgendjemand auf der Welt mehr Macht als eine zweiundzwanzigjährige Frau in San Francisco? Mit der Ecke des Fingernagels schnipste sie sich eine Wimper von der Wange. Sie hatte gesehen, wie er sie anschaute, sichtlich durcheinander. Er glich einem Sieger, der gerade entdeckt hat, dass sein Rennen manipuliert, dass alles, woran er bisher geglaubt hatte, eine Lüge war. Es elektrisierte sie, sich vorzustellen, dass sie seine Illusionen zerschlagen konnte, dass sie diejenige war, die ihn an das Ende seiner Welt begleiten würde, um ihm die wirkliche Welt dahinter zu zeigen.

Die hatte sie eigentlich selbst gerade erst entdeckt. In jenem Sommer, nicht lange nach ihrem Uni-Abschluss, war sie spontan nach Westen gezogen und hatte zu Hause alle überrascht, am meisten ihre Eltern.

»Was machst du denn in Kalifornien?«, hatte Eunice am Tag vor Cassandras Abflug gefragt und nach dem Deckel des noch offenen Koffers gegriffen. »Dort kennt dich doch niemand. Warum sollte dir irgendjemand einen Job geben?« Ihre Stimme klang wie immer nörglerisch, doch ihre Augen straften die Worte Lügen, denn sie leuchteten verzweifelt. Zum ersten Mal fand Cassandra ihre Mutter nicht furchterregend, sondern fast unerträglich schwach. Sie musste den Blick abwenden.

»Wird schon gutgehen«, sagte sie, nahm ein weiteres Paar Socken von dem Stapel auf ihrem Bett und rollte sie zusammen.

»Dort bist du ein Niemand!«

Cassandra tat es ein wenig leid, ihren Vater zu verlassen, der sie im Leichenwagen zum Flughafen brachte, während Eunice, wacker bügelnd, zu Hause blieb – aber wirklich nur ein wenig. Ihr Vater hatte sie fast nie gegen die Tiraden ihrer Mutter verteidigt, hat immer eine Entschuldigung gefunden, um das Zimmer verlassen zu können oder erst gar nicht im Zimmer zu erscheinen. Er hatte seine Entscheidung schon vor langer Zeit getroffen, und jetzt traf Cassandra die ihre, obwohl sie sich im Flughafen am Gate ein wenig länger von ihm umarmen ließ als sonst.

Die Entscheidung erwies sich natürlich als richtig. In San Francisco fühlte sie sich verstanden. Alle wollten mit ihr befreundet sein – ihre Zimmergenossinnen im Boardinghouse, ihre Mitstudenten im Kunstzentrum. Als sei sie dadurch, dass sie hierhergekommen war, automatisch interessanter geworden, unverwechselbarer. Sie hatte jetzt eine Vergangenheit, etwas, vor dem sie geflohen war. Und obwohl es ihr manchmal Spaß machte, die Tatsachen zu verdrehen – Männern in Bars zu erzählen, sie stamme aus Florida statt aus Maryland, und sie heiße Jeanne statt Cassandra –, schien die bloße Tatsache, dass sie vor diesem Leben in San Francisco ein anderes Leben gehabt hatte, ihr mehr Tiefe zu verleihen und bei den Leuten den Eindruck zu erwecken, sie sei eine vielschichtige Persönlichkeit, die es wert wäre, erforscht zu werden; das hatte sie zu Hause nie erlebt. Hier begann sie endlich ein Leben als Künstlerin – diesbezüglich log sie fast nie –, eine Berufung, der sie am besten an einem weit entfernten Ort folgte, an dem nicht plötzlich ihre Mutter auftauchen konnte.

In San Francisco trugen die Männer die Haare lang und waren gern stundenlang nackt mit ihr zusammen, egal, als wen sie sich ausgab.



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